Angie Bovey

Autor: Hp. Büschi

Kapitel 2_001

Der Zusammenbruch in dieser Nacht kam völlig unerwartet. Nun kauert sie völlig durchnässt, mit angezogenen Knien, das Gesicht tief in die Hände vergraben, am Bahndamm, unmittelbar am Eingang des Tunnels. Wenn sich die Züge mit grosser Geschwindigkeit aus der Ebene an dem gleichmässig ansteigenden beidseitigen Damm dem Tunneleingang nähern, blickt sie kurz auf. Ihre müden, roten und ausgetrockneten Augen starren teilnahmslos die vorbeirasenden Kompositionen an. Ihre Kleider sind triefendnass und kleben vom Regen und den Tränen, welche nicht mehr fliessen, an ihrem schönen, weiblichen Körper. Sie hat Durst, ihr Mund ist ausgetrocknet, wie der Wille den Durst zu stillen. Gelegentlich nimmt sie einen Luftzug wahr, der von einem entgegenkommenden Zug beim Eintreten in die Tunnelröhre erzeugt wird. Daneben sind nur das sanfte Aufschlagen der Regentropfen und das Rauschen des Wasserkanals am Fusse der Geleise zu hören. Der Wind hat sich gelegt. Physik, denkt sie, nichts als Physik. Dieser Gedanke reisst sie noch tiefer in die Dunkelheit. Wer sich einmal in den Strudeln eines reissenden Flusses befindet, kommt nicht mehr nach oben, kein Schreien hilft, kein verzweifelter Versuch wieder an die Oberfläche zu gelangen, nichts, hoffnungslos! Einzig die Möglichkeit, auf dem Grund der Tiefe anzukommen und abzustossen, hilft. Wieder an der Oberfläche, vorausgesetzt der Stoss war kräftig genug um empor zu steigen, kannst Du erneut nach Luft schnappen. Und schon wirst du wieder vom nächsten Strudel nach unten gerissen,… Nach jedem Auftauchen kommt eine neue Tiefe und die Kräfte schwinden jedes Mal, immer ein wenig mehr. Immer und immer wieder, bis der Wille sich dagegenzustemmen bricht und die Dunkelheit dich vollends erobert. Nur die wenigsten haben das Glück in ruhigere Gewässer zu gelangen!

 

Seit der Begegnung mit Tobias Biever ist die Physik ein ständiger Schatten. Der Schatten begleitet sie durch die hellsten Tage und dunkelsten Nächte. Nie wurde er verwischt, immer war er allgegenwärtig der Schatten, aber nicht Tobias! Das ist die Realität! Ein Widerspruch zu allen herkömmlichen physikalischen Gesetzen.

 

Es war am 21. Juni vor bald sieben Jahre. Samstag. Sie kann sich noch genau an diesen heissen Tag erinnern. Normalerweise arbeitet sie nie in an Samstagen. Doch in diesem Jahr wollte sie die Arbeiten nicht delegieren, zuviel würde verspielt, sie wollte den Job als Direktionssekretärin im neuen Unternehmen bedingungslos, sie wollte mit dabei sein, wenn ein Unternehmen in dieser Dimension entsteht. Als Belohnung erhoffte sie sich Reisen in entfernte Länder, abzusteigen in edle Hotels um dadurch ein wenig am Glamour der Reichen und Superreichen teilzuhaben. Vielleicht hatte sie dadurch die Möglichkeit einmal einen reichen Gentleman zu heiraten, welche ihre traurige Kindheit vergessen lassen könnte. Sie war in der Haut von Aschenputtel und der Fleiss war das richtige Mittel um Königin zu werden. Das hatte sie schon im Heim als pubertierendes Mädchen erkannt. Die Schule hatte sie erfolgreich als Klassenbeste abschliessen können. Das Glück war für sie nahezu perfekt, als sie eine Lehrstelle in einem der bekanntesten Unternehmen der Stadt angeboten bekam, ohne Bewerbung nur mit dem Bonus eines Heimkindes und dem bewiesenen Fleiss. Als sie mit der Bestnote abschloss, wurde dies gebührend gefeiert. Einige Zeitungen wollten von ihr das Rezept. Nur sie schien zu wissen, wie man eine Lehre mit einer sechs abschliesst. Alle beneideten sie. Nach ein paar Jahren war sie schon in der Direktion und konnte der Posten der pensionierten Direktionssekretärin übernehmen. Sie hat dafür gearbeitet, sie hatte ihn sich verdient.

Jetzt stand sie da, an einem wichtigen Wendepunkt fürs Unternehmen und sie durfte helfen zu gestalten. Sie war immer noch das Aschenputtel und Königin wollte sie werden. Sie war auf dem Weg zur Prinzessin. Ihr Mädchentraum schien in Erfüllung zu gehen.

Als im Frühjahr 2003 Eugen, der Besitzer des Unternehmens ihr vertraulich mitteilte,

dass im Sommer die heimlichen Verhandlungen zur Fusion abgeschlossen werden sollten, war ihr klar, dass sie sich jetzt in Szene setzen musste. Sie war danach stets Präsent. Sie wusste ja, dass die Nachfolge von Eugen einmal geregelt werden müsste. Aber jetzt schon? Eugen war erst 63. Er wollte das Schiff verlassen und verkaufen. Er wollte noch zu anderen Ufern aufbrechen, Reisen zu fernen Kulturen, Bücher lesen und noch vieles mehr. Er freute sich kindlich und hatte tausend Ideen.

Oftmals beklagte sich Eugen über seinen einzigen Sohn, der Herr Doktor sei nicht in der Lage das Unternehmen zu führen, und das mache ihn traurig. Für seinen einzigen Sohn hätte er diesen Konzern aufgebaut. Und er hätte sich nur bedienen können.

An der Lehrabschlussfeier bot ihr Eugen das Du an. Für sie war das eine besondere Ehre. Von den jungen Sekretärinnen und überhaupt von den Mitarbeitern durfte das fast niemand. Im Gegenteil. Die meisten mussten ihn mit Herrn Direktor ansprechen. Ein patriarchischer Unternehmer, durch und durch. Angie fand mit dem Eugen aber einen sehr liebevollen Mann, von dem sie ab und zu väterlich in den Arm genommen wurde. Er genoss es und sie auch. Sie hatte keinen Vater, sie hatte nie väterliche Liebe erfahren.

 

All die Arbeiten zur Fusion konnten nur an Samstagen und Abenden erledigt werden. Das kam ihr sehr entgegen. Die Tage waren nie erfolgreich, wenn sie schon vor acht morgens aus dem Bett musste. Schon in der Lehre war es anstrengend und häufig war sie zu spät. Fast immer wurde sie getadelt und manchmal hat sie auch Sanktionen in Kauf genommen. Dennoch hat sie den besten Lehrabschluss in ihrer Stadt mit Leichtigkeit geschafft. Seither hatte niemand mehr mit einer sechs abgeschlossen. Mit dem Ende der Lehre fiel auch diese Schranke. Sie konnte zur Arbeit, wann sie wollte. Von den älteren Chefs wurde ihre Präsenz abends sehr geschätzt und der eine oder andere jüngere hat dadurch seine Arbeitszeit – nicht ohne Erwartungen - in den Abend verlagert. Bei den Frauen im Unternehmen galt sie eher als kratzbürstig und machtgierig. Hinter vorgehaltener Hand wurde viel Böses über sie erzählt. Aber nichts hatte Substanz oder konnte ihr auch nur Nachgewiesen werden. Viel war Neid und Eifersucht.

 

Obwohl an diesem Samstag nur die wichtigsten Leute im Unternehmen waren, war die Luft stickig und jeder arbeitet still vor sich hin. Wenn die Männer sich zum Kaffee trafen, war der in dieser Nacht bevorstehende Weltmeisterschafts-Boxkampf zwischen Vitali Klitschko und Lennox Lewis das Allerwichtigste. Alle erwarteten dieses Ereignis mit Spannung. Für sie war das unbedeutend. Prügeln für Geld fand sie ätzend. Am frühen Nachmittag beschloss sie spontan, noch ins Strandbad zu gehen. Sie wollte sich, bevor sie sich mit ihren nächsten Freundinnen traf, im See noch einmal erfrischen. Sie musste das heute noch nutzen, denn schon bald würde bei diesem Wetter das Wasser eine seichte Brühe werden. Danach wollte sie gut gelaunt mit den Frauen die Sonnenwende feiern. Sie mochte den Kreis der „Alten Weiber“. Alle waren für mindestens ein Jahr mit ihr im Heim und gehörten zur ihrer Familie. Eine kleine verschworene Gemeinschaft, deren weiblichen Rituale an solchen Abenden einzig ihr Geheimnis war.

Viele Mädchen sind ihr damals im Heim begegnet. Nur zu wenigen hatte sie eine innige Bindung. Aber alle die sollten zu diesem Abend kommen.

Sie fuhr auf dem direktesten Weg ins Bad. Sie war eine der Radfahrerinnen, welche die roten Signale missachtete und es liebte nachts ohne Licht zu fahren. Kurz vor dem Bad wurde sie nach dem Missachten einer roten Ampel von einem Polizisten angehalten. Wieder einmal war sie wieder unachtsam. Die meisten Polizisten ermahnten sie nur. Heute aber nicht. Der eine Polizist war ihr nie freundlich gesinnt. Da haben wir ja wieder einmal Madame Bovey, unsere notorische Rotlichtfahrerin, begrüsste er sie immer mit einem verächtlichen Blick. Er kannte mittlerweile ihre Adresse. Wenn er den Betrag auf die Quittung schrieb, streifte sein Blick genüsslich streichelnd ihre vollen Brüste. Jedes Mal dasselbe Ritual. Sie war das Opfer dieses unausstehlichen Lüstlings, der nichts Besseres zu tun hatte, als jungen vollbusigen Frauen aufzulauern und als fadenscheinige Entschuldigung ihnen Bussen zu verteilen. Dennoch, es war ihr Nervenkitzel und ihr stiller Protest gegen die Gesellschaft und ihre Gesetze. Sie war gewillt, diesem lüsternen Blick Stand zu halten. Nachdem der Polizist noch einmal das Velo inspiziert hatte, ging sie des Weges. Im Bad angekommen, schliesst das Fahrrad ab. Kurze Zeit später schwimmt sie schon im kühlen Wasser und geniesst das Streicheln des Seegrases an ihren Beinen. Als Kind hatte sie das mal ihren Freundinnen erzählt. Die einen lachten und die anderen empfanden Eckel. Aber sie fand es angenehm.

Sie wollte sich wieder an die Sonne legen, als ein grosser sportlicher Mann sich neben sie setzte. Er hätte ihren Schlüsselbund soeben gefunden, hatte er geschummelt, und er wolle ihr ihn nun persönlich zurückgeben. Die Schlüssel seien ihr vorher beim Kiosk aus der Handtasche gefallen,… Sie hatte die Masche sofort durchschaut und lachend nahm sie den attraktiven Mann in ihr Herz auf. So fing der Abend im Strandbad an. Schon schnell vergass sie das Ritual der „Alten Weiber“.

Er hatte ihr an jenem Abend im Bad viel von der modernen Physik erzählt, vom Kleinsten und Grössten. Die Aussage, dass alles noch kleiner sei, als man sich vorstellen könne, beeindruckte sie und wurde zur Basis ihrer ersten tiefen philosophischen Gespräche. Seine Art die Dinge zu zeigen, die Einfachheit etwas zu erklären, die Begeisterung seiner Erzählungen, liessen sie endgültig zur Prinzessin werden. Als sie sich so aus dem Leben erzählten, sie aus dem Heim, er von seinem Vater und seiner Kindheit, wurde ihr warm ums Herz. Es stellte sich heraus, dass Tobias der Herr Doktor war, der nicht Unternehmer werden wollte - der Sohn von Eugen! Tobias sagte, er habe von seinem Vater bereits viel von der jungen fleissigen Sekretärin gehört. Und manchmal habe er das Gefühl, dass der Vater sie verehre… Von so einem Mann hatte sie geträumt - ihr König…

Nach Mitternacht verliessen beide eng umschlungen das Bad.

Sie haben sich für Sonntag erneut verabredet und schon bald wurde aus den beiden ein Paar, welches in der Öffentlichkeit viel Anerkennung und Beachtung fand.

 

Nun sitzt sie da, als kümmerliche Gestalt am Bahndamm. Weiss nicht was ihr geschieht. Gestern hat ihr der Arzt gesagt, dass sie Schwanger sei und ihr erstes Kind erwarten würde. Sie hat sich überschwänglich gefreut und wollte dies mit Tobias bei einem Nachtessen feiern. Er müsse heute Abend noch arbeiten, sagte er, sie seien im Verzug mit den Forschungen. In dieser hektischen Zeit würden die Unternehmen auf die Ergebnisse drängen. Jeder wolle so schnell wie möglich wieder aus der Krise mit innovativen Produkten und Ideen. Zu romantischem Geplänkel habe er keine Zeit.

Wie schon so oft in letzter Zeit. Sie wollte ihr Geheimnis nicht am Telefon verraten, zu feierlich schien ihr das. Endlich hat es geklappt. Seit drei Jahren wollten sie Eltern werden. Es war kein einfaches Unternehmen schwanger zu werden. Die vielen Medikamente gegen ihre schweren Depressionen verhinderten die Schwangerschaft hartnäckig. Viele Stunden und Tage verbrachte sie in der Klinik. Meist alleine. Immer wieder wurde versucht, die Medikamente so zu dosieren, dass sie schwanger werden konnte. Aber schon vor der günstigsten Phase verstärkten sich die Depressionen wieder und der Versuch musste abgebrochen werden.

Vor ziemlich genau vier Jahren kamen die Depressionen von einer Stunde auf die andere. Sie wusste, dass sie gefährdet war. Als sie in der zweiten Klasse war, stürzte sich ihre Mutter von einer tiefen Depression gequält von einer hohen Brücke ins Tal. Sie war sofort tot. Ohne Abschied. Von diesem Moment an war sie alleine, alleine zurückgelassen, alleine mit sich selbst. Mit dem Tod der Mutter verschwand auch die Hoffnung, einmal zu erfahren, wer ihr Vater war. Sie hatte ihn nie kennen gelernt.

Dafür hatte sie Eugen. Sie liess sich gerne in seine väterlichen Arme fallen. Sie fühlte sich bei ihm geborgen. Oftmals erregte sie seine Nähe und manchmal konnte sie auch feststellen, dass es ihm ebenso erging. Sie wusste, dass sie mit dem Feuer spielte, sie wusste, dass sie sich ihm nicht hingeben durfte.

Mit Tobias zusammen waren die Besuche bei Eugen immer schwierig und anstrengend. Sie endeten selten friedlich. Wenn sein Vater wieder einmal von seinen „Studienreisen“ zurück kam, war Tobias nicht mehr sich selber, verzog sich irgendwohin, wie eine kranke Katze in ein unauffindbares Versteck. Nur er alleine kannte es. Nicht selten gelang es Tobias, wenn sein Vater wieder im Land war, an eine Uni in London zu reisen um Forschungsergebnisse auszutauschen. War sie alleine bei Eugen verbrachten sie entspannte Momente. Er erzählte voller Begeisterung von seinen Erlebnissen und er hatte ein Auge für aussergewöhnliche Fotografien. Als Tobias wieder einmal in London war, geschah es. Die Lust siegte über die Vernunft. Es blieb bei dem einen Mal. Und mach mal glaubt Angie, dass die Depressionen die Strafe für ihr Handeln ist. Dennoch genoss Angie weiterhin die väterliche Nähe zu Eugen. Sie waren verbunden, sie hatten ihr Geheimnis, sie und Eugen genauso wie Tobias mit seinem Katzenversteck. Kein Wunder also, dass Eugen jetzt als erster erfahren durfte, dass sie ein Baby gebären wird. Eugen zeigte sich erfreut über den Bericht. Aber instinktiv fühlte Angie, dass er nicht die Wahrheit sagte… Warum verstand sie nicht.

 

Will sie auch so enden wie ihre Mutter? Mit einem Kind im Bauch? Soll sie sich nun unter den Zug werfen, allem ein Ende bereiten? Tobias lässt sie immer öfter im Stich, er hatte nie mehr Zeit für sie, er war nicht mehr da, wenn sie ihn brauchte. Sein Erfolg war ihm wichtiger, die Physik, die Forschung und das Geld. Und seine Rückzüge waren nicht nur mehr, wenn sein Vater im Lande war. Sie wurden immer häufiger. Auch von Eugen wurde sie – das erste Mal überhaupt - abgelehnt. Begründen konnte sie das nicht, aber sie fühlte es ganz deutlich. Sie lag in ihrem Bett und verfiel in eine tiefe Depression. Morgens um halb sechs versuchte sie Tobias anzurufen. Er kommt nicht ans Telefon. Sie spricht ihm aufs Band. Was auch immer er gerade tue, sie liebe ihn, sie brauche ihn dringend, die Depression, er wisse schon… und, sie kriege ein Baby von ihm. Danach tauchte sie ein letztes Mal ab in die Tiefe der Dunkelheit. Nichts konnte sie mehr halten. Sie war alleine. Und die Sehnsucht, endlich zu ihrer Mutter zurück zukehren wurde immer grösser, mit jeder Minute, mit jeder Sekunde.

Nun steht sie auf, will den Bahndamm verlassen, um oben auf dem höchsten Punkt begeben um sich ein letztes Mal von allem Irdischen zu verabschieden. Das tat sie nicht zum ersten Mal. Danach wolle sie runtersteigen in die Tiefe des Tunnels. Diesmal würde es klappen, dachte sie, sie wolle zurück zu ihrer Mutter. Sie bemerkt nicht, dass es immer noch regnet. Ein stechender Schmerz durchbohrt ihre Brust. Sie stürzt - stürzt in die Dunkelheit dem gleissenden Licht entgegen.  

Kapitel 2_001
Angie Bovey
Ihr Leben
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